Fließproduktionssysteme mit unbegrenzten Puffern

Produktionssysteme lassen sich nach dem Merkmal der organisatorischen Anordnung der Arbeitssysteme und den zwischen ihnen auftretenden Transportbeziehungen in unterschiedliche Organisationstypen der Produktion unterteilen (vgl. Günther/Tempelmeier (2020), Abschnitt 1.3.2). Dabei kommen zwei Anordnungsprinzipien zum Einsatz. Beim Funktionsprinzip werden Arbeitssysteme, die gleichartige Funktionen (Arbeitsgänge) durchführen können, räumlich in einer Werkstatt zusammengefaßt. Bei Anwendung des Objektprinzips orientiert sich die Anordnung der Arbeitssysteme an den Arbeitsplänen der zu bearbeitenden Produkte. Ist die Materialflußrichtung dabei für alle Produke identisch, dann spricht man vom Fließprinzip. Sinnvollerweise stimmt man im Rahmen der Fließbandabstimmung die Arbeitsbelastungen der nacheinander durch die Produkte zu durchlaufenden Stationen so aufeinander ab, daß es einen gleichmäßigen Materialfluß gibt. Die sich aus den Tätigkeiten, die einer Arbeitsstation zugeordnet sind, ergebende durchschnittliche zeitliche Belastung bezeichnet man als Stationszeit. Da die im Einzelfall realisierte Bearbeitungszeit, vor allem wenn die Tätigkeiten durch Menschen durchgeführt werden, zufälligen Schwankungen unterworden ist, wird man in vielen Fällen zwischen den Bearbeitungsstationen Platz zum Speichern der Produkteinheiten vorsehen, mit deren Bearbeitung an der nächsten Arbeitsstation nicht unmittelbar begonnen werden kann, weil diese noch beschäftigt ist.

Das folgende Bild zeigt ein Fließproduktionssystem, in dem die Arbeitsstationen durch Puffer mit begrenzter Größe entkoppelt sind.

Solche Produktionssysteme können in vielen Fällen nicht mehr exakt, sondern nur mit Hilfe von approximationen Verfahren analytisiert werden.

In einigen in der Praxis realisierten Fließproduktionssystemen ist die Pufferkapazität zwischen zwei benachbarten Stationen aber so groß, daß sie tatsächlich unbegrenzt ist oder vereinfacht als unbegrenzt angenommen werden kann. Das ist z.B. der Fall, wenn z.B. mehrere Arbeitsplätze linear angeordnet sind und der Materialfluß mit Hilfe eines Gabelstaplers oder eines Hubwagens erfolgt. Das folgende Bild zeigt ein solches System mit mehreren Handarbeitsplätzen, zwischen denen Material auf die Bearbeitung wartet.

In einem derartigen Produktionssystems  kann man das Leistungsverhalten sehr einfach - unter bestimmten Bedingungen sogar exakt - bestimmen. Die Modellierung eines Systems mit unbeschränkten Puffern ist auch für die Untersuchung von Systemen mit beschränkten Puffern nützlich, da damit eine obere Schranke für die Produktionsrate des Fließproduktionssystems bestimmt werden kann.

Zur Analyse von Fließproduktionssystemen mit ungeschränkten Puffergrößen zerlegt man das aus $M$ Stationen bestehende System in $M$ einstufige Warteschlangensysteme, zwischen denen Materialfluß in der Weise besteht, daß der Output einer vorgelagerten Station zum Input der nachgelagerten Station wird. Dies zeigt das folgende Bild:

a

Jede Station wird als einstufiges Warteschlangensystem modelliert. Warteschlangensysteme und -modelle lassen sich nach den materiellen Komponenten Zugangsquelle, Bedienungssystem, Wartesystem und Auswahlordnung charakterisieren. Im vorliegenden Fall der Fließproduktion gilt: Die Zugangsquelle ist die stromaufwärts gelegene Station. Das Bedienungssystem ist der Arbeitsplatz der Station. Das Wartesystem ist der Wartebereich vor einer Station. Als Auswahlordnung wird üblicherweise die Reihenfolge der Ankunft eines Werkstücks im Wartesystem verwendet.

Man kann nun die einzelnen Stationen mit Hilfe eines geeigneten Warteschlangenmodells analysieren und aus dem Leistungsverhalten der Stationen und bestimmten Annahmen über den Transfer der Werkstücke zwischen benachbarten Stationen dann auf die Leistung des gesamten Systems schließen. In Abhängigkeit von den Eigenschaften der Bearbeitungsprozesse kann man dabei auf unterschiedliche Warteschlangenmodelle zurückgreifen.

1. Exakte Analyse: Bedienungssysteme mit exponentialverteilte Bearbeitungszeiten

Unter folgenden Bedingungen kann man die Leistungskenngrößen des Fließproduktionssystems exakt berechnen:

  1. Das betrachtete Fließproduktionssystem besteht aus $M$ Stationen mit jeweils unbegrenzter Puffergröße.
  2. Die Station $m$ verfügt über $S_m$ identische Arbeitsplätze (Maschinen, server), die parallel zur Bearbeitung der Werkstücke eingesetzt werden.
  3. Die Abfertigungsreihenfolge an einer Station orientiert sich am First-Come-First-Served-Prinzip (FCFS).
  4. Aufträge oder Werkstücke kommen mit einer bekannten Ankunftsrate $\lambda$ an der ersten Station des Systems an. Es handelt sich um einen Poisson-Ankunftsprozeß, d.h. die Zwischenankunftszeiten sind exponentialverteilt.
  5. Die Bearbeitungszeiten an einem Arbeitsplatz an Station $m$ sind exponentialverteilt mit dem Mittelwert $b_m=\frac{1}{\mu_m}$. ($\mu_m$ ist die Bedienrate eines Arbeitsplatzes der Station $m$).

Die beschriebenen Annahmen führen dazu, daß man das Fließproduktionssystem als lineare Folge von einstufigen $M/M/S-$Warteschlangensystemen modellieren kann. Für den Fall, daß an einer Station nur ein Arbeitsplatz vorhanden ist, verwendet man das $M/M/1$-Warteschlangenmodell.

Dabei ist der Ankunftsprozeß an einer stromabwärts gelegenen Station identisch mit dem Abgangsprozeß der unmittelbar davor liegenden, stromaufwärts gelegenen Station. Da der Abgangsprozeß von einem $M/M/S$-Warteschlangensystem einem Poisson-Prozeß folgt und somit für alle einstufigen Warteschlangensysteme ein Poisson-Ankunftsprozeß (exponentialverteilte Zwischenankunftszeiten) gegeben ist, läßt sich das betrachtete Fließsystem mit Hilfe der $M/M/S$-Warteschlangensystems exakt auswerten. Grundsätzlich muß für ein solches System gelten, daß die Ankunftsrate $\lambda$ kleiner ist als die kleinste Bedienungsrate aller im System befindlicher Stationen:

$\lambda <{\min}_{m=1,2,...,M} \left\{ {S_m\cdot \mu _m} \right\} $

Ist diese Bedingung nicht erfüllt, dann kommt es an mindestens einer Station, die den Engpaß des Systems bildet, zu einem Werkstücküberlauf (d.h. es kommt zu einer Akkumulation unendlich vieler Werkstücke). Ist die genannte Bedingung jedoch erfüllt, dann resultiert aus dem strengen linearen Materialfluß $m\rightarrow m+1\rightarrow m+2\rightarrow \ldots \rightarrow M$, daß  die Produktionsrate ddes Systems, $X$, gleich der Ankunftsrate an der ersten Station, $\lambda$, ist: $X=\lambda$. Dies ist ein Unterschied zu Fließproduktionssystemen mit begrenzten Puffergrößen, da dort die Produktionsrate durch Blocking und Starving der Stationen beeinträchtigt werden kann.

Die Auslastungen der einzelnen Stationen $m$ können direkt aus den Inputwerten bestimmt werden. Es gilt:

$\rho _m=\frac{\lambda}{S_m\cdot \mu _m}=\frac{b_m\cdot X_m}{S_m} \qquad m=1,2,\ldots,M$

Als interessierende Leistungskenngröße des Fließproduktionssystems läßt sich nun aus dem $M/M/S-$Warteschlangenmodell z.B. die mittlere Anzahl von Werkstücken an den einzelnen Stationen $m$, $L_m$, bestimmen. Mit Hilfe der $L_m$-Werte kann dann auf die mittlere Gesamtzahl von Werkstücken im System (Bestand, WIP, work-in-process) geschlossen werden. Sie beträgt:

$L=\displaystyle{\sum_{m=1}^M} L_m$

Für jede einzelne Station kann auch die exakte Wahrscheinlichkeitsverteilung des Lagerbestands bestimmt werden. Beträgt die Bearbeitungszeit an einer Station z.B. eine Minute und die Zwischenankunftszeit 1.25 Minuten, dann erhält man folgende, mit dem Produktions-Management-Trainer berechnete Kenngrößen der Station:

  • Auslastung $U = \frac{0.800}{1.000} = 0.800$
  • Mittlere Anzahl im System $L_s = 4.000$
  • Mittlere Anzahl in der Warteschlange $L_q = 4.000-0.800 = 3.200$
  • Mittlere Durchlaufzeit $W_s = \frac{4.000}{0.800} = 5.000$
  • Mittlere Wartezeit $W_q = \frac{3.200}{0.800} = 4.000$
  • Wahrscheinlichkeit dafür, daß das System leer ist  $P_0 = (1-0.800) = 0.20000$

DIe Wahrscheinlichkeitsverteilung der Anzahl Werkstücke (Kunden) im System zeigt das folgende Bild:

a

 

Man sieht, daß hier im Extremfall mehr als 20 Plätze für Werkstücke an der Station benötigt werden. Man kann nun Optimierungsüberlegungen anstellen. Zum Beispiel kann man überlegen, ob man die Streuung der Bearbeitungszeiten nicht durch geeignete technische oder organisatorische Maßnahmen reduzieren kann. Dies hätte unmittelbar Auswirkungen auf die Höhe der Bestände und damit auf die Durchlaufzeit.

2. Approximative Analyse: Allgemein verteilte Bearbeitungszeiten

Sind die Bearbeitungszeiten an einer Station nicht exponentialverteilt, dann kann man wie folgt vorgehen (Annahme: ein Server pro Station). Man modelliert jede Station als ein $GI/G/1$-Warteschlangensystem. Dies ist ein Warteschlangensystem mit allgemein verteilten und voneinander unabhängigen Zwischenankunftszeiten, allgemein verteilten Bedienungszeiten und einer Bedienungseinrichtung.

Die Ankunftsrate $\lambda$ (bzw. die mittlere Zwischenankunftszeit eines Werkstücks) ist dabei für alle Stationen gleich: $\lambda_m=\lambda$ ($m=1,2,...,M$). Denn die Werkstücke fließen ja linear von Station zu Station und es entsteht kein Verlust durch Ausschuß. Bei der Betrachtung einer einzelnen Station ist unter diesen Bedingungen zu berücksichtigen, daß die Zwischenabgangszeiten nicht mehr (wie im $M/M/1$-Warteschlangensystem) exponentialverteilt sind und daß damit der Variationskoeffizient der Zwischenankunftszeiten an einer Station nicht mehr gleich 1 ist.

Um die interessierenden Leistungskenngrößen des Systems (Durchlaufzeit durch alle Stationen, Wartezeit je Station, Anzahl Werkstücke je Station) ermitteln zu können, kann man auf Approximationen für das $GI/G/1$-Modell zurückgreifen [vgl. Tempelmeier(2020)]

Die Berechnungen laufen dann wie folgt ab:

Station
Zwischenankunftszeit
Zwischenabgangszeit
1
Gegeben: $\frac{1}{\lambda}$
Berechne $CV_d^2(1)$
2
$CV_a^2(2)=CV_d^2(1)$
Berechne $CV_d^2(2) $
3
$CV_a^2(3)=CV_d^2(2)$
$\ldots$

Dabei bezeichnen:
$CV_a^2(m)$ = quadrierter Variationskoeffizient der Zwischenankunftszeit an Station $m$
$CV_d^2(m)$ = quadrierter Variationskoeffizient der Zwischenabgangszeit an Station $m$

Diese Gleichungen werden nun Station für Station schrittweise ausgewertet. Dabei wird beim Übergang zur Station $m$ der Variationskoeffizient der Zwischenankunftszeiten dieser Station gleich dem Variationskoeffizienten der Zwischenabgangszeiten der Vorgängerstation $m-1$ gesetzt.

Die Ankünfte an der Station 1 sind in der obigen Tabelle als Poisson-verteilt angenommen. Man kann aber auch allgemein verteilte Ankünfte annehmen. In diesem Fall muß man in den Formeln für den quadrierten Variationskoeffizienten anstelle des Wertes 1 (für die Exponentialverteilung) den gültigen Wert einsetzen.

Siehe auch ...

Literatur

Tempelmeier, H. (2020). Analytics in Supply Chain Management und Produktion (7. Aufl.). Norderstedt: Books on Demand.
Günther, H.-O. und Tempelmeier, H. (2020). Supply Chain Analytics - Operations Management und Logistik. 13. Aufl., Norderstedt: Books on Demand.