Berücksichtigung von Störungen nach dem Completion-Time Konzept

In den obigen Ansätzen zur Analyse von Fließproduktionsysteme wird angenommen, daß alle Stationen des betrachteten Systems mit einer technischen Verfügbarkeit von 100%, also störungsfrei arbeiten. In der betrieblichen Praxis ist allerdings mit einem u.U. erheblichen Nutzungsausfall eines Produktionssystems zu rechnen, der durch technische Störungen einzelner oder mehrerer Stationen verursacht werden kann. Insbesondere in automatisierten und verketteten Fließproduktionssystemen (Transferstraßen) treten, bedingt durch den hohen Komplexitätsgrad, relativ häufig technische Störungen auf. I.a. kann davon ausgegangen werden, daß die Mehrzahl der Störungen nach wenigen Minuten bzw. Sekunden bereits durch das Bedienungspersonal behoben wird, während nur wenige Störungen mit einem mehrstündigen Systemstillstand verbunden sind, der i.d.R. durch spezialisiertes Wartungspersonal beseitigt wird. Die Ausfallzeiten sind daher Zufallsvariablen mit einer sehr großen Streuung.

Prinzipiell bestehen zwei grundsätzliche Alternativen zur Beschreibung des Störverhaltens einer Anlage im Zeitablauf.

Nutzungsabhängige Störungen

Ist die wesentliche Ursache einer Maschinenstörung in der Belastung während des Produktionsprozesses zu sehen, dann eignet sich die Produktionszeit bzw. Betriebszeit der Maschine als Maßstab zur Beschreibung ihrer Ausfallneigung. Unter diesen Bedingungen spricht man von einer nutzungsabhängigen Ausfallneigung.

Zeitabhängige Störungen

Zeigen sich die Belastungen jedoch auch während der Stillstandszeiten der Maschine (z.B.
Korrosion) oder besteht die Möglichkeit, daß die Maschine auch während eines Maschinenstillstandes in den Zustand 'ausgefallen' übergehen kann, dann
spricht man von einer zeitabhängigen Ausfallneigung. Zur Beschreibung der Ausfallneigung würde man dann die Kalenderzeit bzw. das Anlagenalter heranziehen.

Als Kennwert zur Beschreibung der Ausfallneigung dient die mittlere störungsfreie Zeit, $MTTF_m$ (mean time to failure) einer Anlage bzw. Maschine. Die Dauer eines Reparaturprozesses wird mit der mittleren Reparaturzeit, $MTTR_m$ (mean time to repair) beschrieben. Aus diesen beiden Kennwerten läßt sich die technische Verfügbarkeit der Maschine $m$, $e_m$, wie folgt bestimmen:

$\displaystyle{e_m = \frac{MTTF_m}{MTTF_m+MTTR_m} \qquad m=1,2,...,M$

$MTTF$ ist die mittlere störungsfreie Zeit. $MTTR$ ist die mittlere Reparaturzeit.

Die technische Verfügbarkeit einer Maschine $m$ gibt den Anteil der produktiv nutzbaren Zeit an der gesamten Betriebszeit der
Maschine pro Periode an. Die technische Verfügbarkeit kann definitionsbedingt Werte zwischen Null und Eins annehmen. In dem
Fall $e_m=1$ handelt es sich um eine vollständig zuverlässige Maschine. Ist die Taktzeit deterministisch und wird sie als Zeiteinheit gewählt, dann ist die technische Verfügbarkeit gleich der Produktionsrate der Maschine.

In der betrieblichen Praxis ist die erwartete Verfügbarkeit oft die einzige Größe, mit der der Einfluß von Störungen auf das Produktionsgeschehen erfaßt wird. Die Verfügbarkeit ist allerdings keine eindeutige Größe, denn sie wird durch die zwei Einflußfaktoren $MTTF$ und $MTTR$ beeinflußt. Unterschiedliche Kombinationen von $MTTF$ und $MTTR$ können dieselbe Verfügbarkeit ergeben. Lösen wir z.B. nach $MTTF$ auf, dann erhalten wir:
$\displaystyle{ MTTF_m = MTTR_m \cdot \frac{e_m}{1-e_m} \qquad m=1,2,...,M$

Bei gegebener Verfügbarkeit ist die $MTTF$ demnach eine lineare Funktion der $MTTR$.

Der Kehrwert der störungsfreien Zeit,
$ p_m=\frac{1}{MTTF_m} \qquad m=1,2,...,M,$

bezeichnet die mittlere Ausfallrate einer Maschine (Anzahl Ausfälle je Zeiteinheit). Bei nutzungsabhängigen Störungen bezieht sich die störungsfreie Zeit $MTTF_m$ auf die reine Betriebszeit der Maschine $m$. Daher gibt die Ausfallrate die mittlere Anzahl von Störungen pro Betriebszeiteinheit der Maschine an.

Multipliziert man diesen Wert $p_m$ mit der mittleren Reparaturzeit $MTTR_m$, dann erhält man die durchschnittliche Reparaturzeit pro Betriebszeiteinheit:
$p_m\cdot MTTR_m = \frac{MTTR_m}{MTTF_m} \qquad m=1,2,...,M,$

Da die mittlere Bearbeitungszeit pro Takt bzw.\ Bearbeitungsvorgang an Maschine $m$ aber $b_m$ beträgt, erhalten wir die pro Bearbeitungsvorgang (Takt) zu erwartende Reparaturzeit:

Reparaturzeit pro Bearbeitungsvorgang an Maschine m
$= \frac{MTTR_m}{MTTF_m}\cdot b_m \qquad m=1,2,...,M$

Die Summe aus Bearbeitungszeit und Reparaturzeit, d.h. die gesamte Aufenthaltsdauer eines Werkstücks (ohne Blockierung und Leerzeiten) beträgt dann (Bearbeitungszeit + Reparaturzeit an Maschine $m$):

$h_{m} = b_m + \frac{MTTR_m}{MTTF_m}\cdot b_m $

$= b_m \cdot \big(1+\frac{MTTR_m}{MTTF_m} \big) \qquad m=1,2,...,M$

Diese Belegungsdauer ( process completion time; holding time) einer Station kann nun als modifizierte Bearbeitungszeit an einer Station in einem Verfahren Modell zur Leistungsanalyse eines Fließproduktionssystems eingesetzt werden.

Der quadrierte Variationskoeffizient dieser modifizierten Bedienungszeit wird durch folgende Gleichung beschrieben:

$CV_{H;m}^2={\frac{CV_{R;m}^2\cdot MTTF_m+MTTF_m}{b_m\cdot \left[ {1+{\frac{MTTF_m}{MTTR_m}}} \right]^2}}+CV_{B;m}^2$

Dabei ist $CV_{R;m}^2$ der quadrierte Variationskoeffizient der Reparaturzeit an der Station $m$. Bei exponential-verteilten Reparaturzeiten ist diese Größe gleich 1. $CV_{B;m}^2$ ist der quadrierte Variationskoeffizient der Bearbeitungszeit an der Station $m$.

Man kann nun z.\,B.\ das $GI/G/1$-Modell einsetzen, um den Einfluß der Störungen auf die Produktionsrate des Fließproduktionssystems abzuschätzen. Dabei verwendet man anstelle der 'normalen' Bedienzeit $b_m$ die um den Zuschlag erhöhte modifizierte Bedienzeit $h_m$. Bei der Interpretation der Ergebnisse (DLZ, Auslastung etc.) muß dann darauf geachtet werden, daß jeweils auch die Reparaturvorgänge in den Angaben enthalten sind.

Die Erhöhung der mittleren Bearbeitungszeit durch die Störungen führt zu einer Erhöhung der Durchlaufzeit der Werkstücke durch das System.

Siehe auch ...

Literatur

Tempelmeier, H. (2015), Supply Chain Management und Produktion - Übungen und Mini-Fallstudien. 4. Aufl., Norderstedt: Books on Demand.